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Neue Computerspiele Tanz auf der Zeitachse

Die Uhr läuft, manchmal auch rückwärts. In aktuellen Computer- und Videospielen kann der Spieler nur bestehen, wenn er die Zeit anhält, zurückspult oder schneller laufen lässt. SPIEGEL ONLINE stellt die cleversten Zeitenzauber-Spiele vor.
Von Achim Fehrenbach

Captain Picard tut es, der Terminator tut es und auch der Abenteurer Marty McFly aus "Zurück in die Zukunft": Zeitreisen sind ein überaus beliebtes Motiv in Science-Fiction-Filmen. Die Ausflüge durch die vierte Dimension haben es in sich: Irrwege und Zeitschleifen setzen den Reisenden zu, und wenn der Lauf der Dinge nachträglich verändert wird, hat das oft unabsehbare Folgen. Der Tanz auf der Zeitachse bietet jede Menge Spannung - kein Wunder also, dass das Thema schon früh auch in Videospielen auftauchte. In "Time-Gate"  (1983) ballert sich der Spieler durch Schwärme von Alien-Raumschiffen, schlüpft durch Zeittore und vernichtet schließlich den Heimatplaneten der Außerirdischen. Im Adventure-Klassiker "Space Quest IV"  (1991) reist der Held Roger Wilco in die Serien-Sequels X und XII, die es letztlich nie gegeben hat. Einen ähnlich selbstreferentiellen Humor bietet "Day of the Tentacle"  (1993), in dessen Verlauf sogar die amerikanische Unabhängigkeitserklärung umgeschrieben wird.

Alle drei haben gemein, dass Zeitsprünge vor allem als erzählerisches Element dienen. Direkte Zeitmanipulation wurde erst in späteren Spielen populär. In "Prince of Persia: The Sands of Time"  (2003) kann der Spieler die Zeit mittels eines magischen Dolches zurückspulen, verlangsamen oder auch Gegner "einfrieren": sehr praktisch, wenn das Leben des Prinzen am seidenen Faden hängt. Die Zeitlupenfunktion machte in First-Person-Shootern als "Matrix"-ähnliche "bullet time"  Karriere ("Max Payne", "Fear"), die Rückspulfunktion gibt es mittlerweile in fast jedem Rennspiel. Diese vergleichsweise simplen Zeitwerkzeuge machen Spiele zwar leichter, aber keineswegs spannender. All die Paradoxien und Rätsel, die eine Zeitreise mit sich bringen kann, bleiben dabei außen vor.

Die wirklich guten Ideen kommen - wie so oft - aus der Independent-Games-Szene. Mit "Braid"  hat der Brite Jonathan Blow 2008 neue Maßstäbe in Sachen Zeiträtsel gesetzt. "Braid" mischt klassisches Platform-Gaming à la "Super Mario" mit anspruchsvollen Denkaufgaben. Zwar kommt in diesem wunderschön gezeichneten Märchen auch die hinlänglich bekannte Rückspulfunktion zum Einsatz. Vor allem aber bietet jede der Welten, die der rothaarige "Braid"-Held Tim durchquert, eine eigene Zeitmechanik: Mal fließt die Zeit rückwärts, wenn sich Tim vorwärts bewegt; mal trägt er einen magischen Ring, der die Zeit im nahen Umkreis langsamer laufen lässt. In einer der Welten erzeugt Tim schattenhafte Doppelgänger, die für ihn Schalter umlegen und Monster ablenken.

Diese Klon-Mechanik kommt auch in einigen anderen Spielen zum Einsatz. Am reizvollsten ist die Idee in "The Misadventures of P.B. Winterbottom"  umgesetzt, einem kniffligen Rätsel-Plattformer in Stummfilmästhetik. Auf der Jagd nach leckeren Törtchen schickt der schrullige Zylinderträger seine Doppelgänger in Zeitschleifen mit genau abgemessenen Laufwegen und Pausen. Für den Spieler ist "Winterbottom" eine Zeitreise im Kopf, denn er muss alles präzise vorausplanen. Und eine beglückende Erfahrung, wenn die Klon-Aktionen wie Zahnräder ineinander greifen.

Wem von Spielen wie "Braid" oder "Winterbottom" schon der Kopf raucht, dem steht Härteres bevor: Voraussichtlich 2011 erscheint mit "Achron"  ein Strategiespiel, das nicht nur Multiplayer-Kämpfe in Echtzeit, sondern auch Schlachten in der Vergangenheit und Zukunft erlaubt. Die bereits spielbare Alpha-Version von "Achron" zeigt, wie ein solches Szenario aussehen kann: Spieler eins zerstört mit seiner Roboterarmee eine Planetenbasis von Spieler zwei. Spieler zwei reist daraufhin in die Vergangenheit, um die Fabrik zu zerstören, in der Spieler eins die besagte Armee hergestellt hat. Als Reaktion darauf kann nun natürlich Spieler eins noch weiter zurückreisen und seine Fabrik mit Kanonentürmen schützen. Daraus ergeben sich Kausalitätsprobleme wie das Großvaterparadoxon , die "Achron" aber mit diversen Kunstgriffen  löst. Auch verfügen die Spieler in diesem "Wettrennen in der Vergangenheit" (Entwickler Chris Hazard) nur über eine begrenzte Menge "Chrono-Energie", die sich in Zeitreisen verbraucht.

"Achron" ist der bislang wagemutigste Versuch, Zeitmanipulation als eigenständiges Spielelement zu etablieren. Dass solche Experimente ein Massenpublikum erreichen können, haben "Braid" und auch das Raumrätsel "Portal" bewiesen. In jedem Fall ist es höchste Zeit, aus den immergleichen Spielabläufen einfallsloser Mainstream-Titel auszubrechen. Wie sagte Bill Murray so treffend in dem wohl berühmtesten Zeitschleifenfilm ? "Der Winter wird nie enden, so lange dieses Murmeltier seinen eigenen Schatten sieht."

Braid

Game Screenshot - Braid

Game Screenshot - Braid

Ohne Schlüssel kein Weiterkommen: Der Sprung in die Löwengrube ist noch eine der leichteren Übungen in "Braid" . Hauptfigur Tim ist auf der Suche nach einer verschollenen Prinzessin, und um die holde Maid zu finden, bewegt er sich vorwärts und rückwärts durch die Zeit. "Braid"-Schöpfer Jonathan Blow ließ sich unter anderem von Italo Calvinos "Unsichtbare Städte" und David Lynchs "Mulholland Drive" inspirieren. Kein Wunder, dass dem Spieler bei den Zeiträtseln bisweilen schwindlig wird.

Achron

Game Screenshot - Achron

Game Screenshot - Achron

Dieser Screenshot ist nicht sonderlich spektakulär, denn er stammt aus der Alpha-Version von "Achron" . Bevor die Entwickler die Grafik aufmotzen, möchten sie erst einmal das Gameplay in den Griff bekommen. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass das Strategiespiel Schlachten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erlaubt - und das auch noch im Mehrspieler-Modus. "Achron" erscheint voraussichtlich 2011.

Singularity

Game Screenshot - Singularity

Game Screenshot - Singularity

"Singularity"  sieht auf den ersten Blick aus wie ein ganz gewöhnlicher Shooter. Die wichtigste Waffe im Spiel ist aber kein genretypisches Schießeisen, sondern eine "Zeitmanipulationsmaschine". Mit ihr kann der Spieler beispielsweise eine eingestürzte Brücke in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzen oder auch eine Holzkiste, hinter der sich Feinde verschanzen, in Sekundenschnelle zu morschem Holz altern lassen. Sehr praktisch dürfte auch das "Chronolight" sein, eine Art "Zeit-Taschenlampe", die den Spieler in die Vergangenheit und Zukunft blicken lässt. "Singularity" erscheint Ende Juni 2010.

The Misadventures of P.B. Winterbottom

Game Screenshot - Winterbottom

Game Screenshot - Winterbottom

Was macht ein verrückter Kuchenräuber, um an frei schwebendes Naschwerk zu gelangen? Richtig, er holt die eigenen Klone zu Hilfe. In endlosen Zeitschleifen müssen die armen Doppelgänger nach seiner Pfeife tanzen. "The Misadventures of P.B. Winterbottom"  ist ein charmanter Platformer im Retro-Look mit teils happigen Rätseln. Aber was tut man nicht alles für ein duftendes Stück Kuchen?

Chronotron

Game Screenshot - Chronotron

Game Screenshot - Chronotron

Ähnlich wie "Winterbottom" setzt "Chronotron"  auf das Klon-Prinzip: Mittels Zeitmaschine erzeugt der Spieler beliebig viele Roboter, die dann verteilte Aufgaben übernehmen. Wem das gefällt, der sollte auch einmal "Echoshift" , "Timebot" , "Time Donkey"  oder "The Company of Myself"  ausprobieren.

Cursor*10

Game Screenshot - Cursor

Game Screenshot - Cursor

Browsergame-Fans aufgepasst: Hinter der kargen Fassade von "Cursor*10"  verbirgt sich ein süchtig machendes Spielprinzip. Ziel ist es, in einem fünfzehnstöckigen Haus per Mausklick möglichst viele Gegenstände abzuräumen, während die Uhr erbarmungslos heruntertickt. Weil der Spieler nicht alles in einem Durchgang schaffen kann, muss er mit den "Geistern" aus früheren Durchgängen kooperieren. Aber wie schafft man bloß die ganzen 188 Punkte? Beim "best run" auf Youtube  zu spicken, ist natürlich strengstens verboten. Wer noch mehr will, kann "Cursor*10 - second session"  spielen.

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